Als Benno von Wiese vor 50 Jahren schrieb, die "Reitergeschichte" Hugo von Hofmannsthals sei "bisher kaum beachtet worden" , konnte er nicht ahnen, dass diese Novelle in den folgenden Jahrzehnten zu einem der meistuntersuchten Werke des Österreichers werden würde. In einer bemerkenswerten Anzahl von Interpretationen wurde versucht, die "Reitergeschichte" zu verstehen und zu erklären, wobei eine überraschende Vielzahl von Ansätzen in der Forschungsliteratur zu finden ist. Die Novelle wurde auf ihren historischen Hintergrund hin interpretiert, in psychologischer, soziologischer und philosophischer Hinsicht ausgelegt, auf ihre Tier- und Todessymbolik hin geprüft. Daher muss jede Arbeit, die sich diese Novelle als Untersuchungstext wählt, zuerst festlegen, welche Grundannahmen sie als gültig behandeln wird. Ein ganzheitlicher Ansatz, der alle verschiedenen Theorien beachtet, ist auf Grund ihrer fundamentalen Differenzen kaum möglich. Er soll hier auch nicht versucht werden.
Die folgende Arbeit widmet sich dem Versuch, die "Reitergeschichte" auf eine psychologisch orientierte Fragestellung hin zu überprüfen. Die Novelle wird als Geschichte einer Selbstentfremdung gelesen werden, in der der Zentralcharakter Wachtmeister Anton Lerch sich von seiner bisherigen Lebenssituation und seinen gewohnten Denkmustern entfernt. Das Hauptaugenmerk soll dabei auf der Frage liegen, inwieweit der Doppelgänger, der dem Wachtmeister erscheint, eine Manifestation seiner psychischen Situation ist.
Im Rahmen der Analyse wird zuerst eine Untersuchung des Entwicklungsprozesses vorgenommen, den Lerch durchläuft und ohne dessen Verständnis keine Auslegung des Doppelgängers möglich ist. Damit verbunden ist eine ausschnitthafte Betrachtung des Erzählsystems, um dessen Verbindung mit dem inneren Wandlungsprozess aufzuzeigen. Im Anschluss erfolgt daraus eine genauere Betrachtung des Doppelgängers.