Unter mysteriösen Umständen verschwand vor 80 Jahren der brillante Physiker Ettore Majorana während einer Überfahrt von Palermo nach Neapel. Seither fragt man sich, wie das spurlose Verschwinden eines der vielver- sprechendsten Wissenschaftler seiner Generation zu erklären sei. Hatte Majorana, so die gängige These, die Physik aufgegeben, als ihm klar wurde, dass die Kernspaltung zur Entwicklung der Atombombe führen würde. Agamben verfolgt in seinem Buch eine andere Hypothese: Ausgehend von einer genauen Analyse des in diesem Buch erstmals auf Deutsch veröffentlichten Aufsatzes »Die Bedeutung statistischer Gesetze in der Physik und den Gesellschaftswissenschaften«, in dem Majorana zeigt, wie in der Quantenphysik Wirklichkeit in Wahrscheinlichkeiten aufgelöst wird, schlägt Agamben im Rückgriff auf Überlegungen von Simone Weil vor, das Verschwinden des Physikers als radikales Experiment zu verstehen, von der wirklichen in eine probabilistische Welt überzulaufen, die Wirklichkeit gleichsam im Selbstversuch infrage zu stellen.
Giorgio Agamben, geboren 1942 in Rom, ist Professor für Ästhetik und Philosophie in Venedig und am Collège international de philosophie in Paris. Er ist einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart. 1995 erschien sein einflussreiches Werk Homo sacer, in dem er politische Konzepte von Carl Schmitt, Walter Benjamin, Hannah Arendt und Michel Foucault, vor allem dessen Begriff der Biopolitik, weiterentwickelt.