Das europäische Projekt entstand in einer durch Offenheit geprägten westlichen Welt, der Jahre des Krieges, des Nationalismus und der Abschottung vorausgegangen waren. Dieser Trend zur Öffnung erfasste nach Ende des Kalten Krieges den gesamten Globus. In dieser offenen Welt wurde gegenseitige Abhängigkeit als Quelle von Frieden und Wohlstand gesehen und Demokratisierung als linearer, irreversibler und mit dem Kapitalismus eng verbundener Prozess gedacht. Seit der Jahrtausendwende haben die Sicherheitskrise im Gefolge des 11. Septembers, die globale Finanzkrise, die Krise der liberalen Demokratie und die damit einhergehende Welle des euroskeptischen Nationalismus, die Pandemiekrise und schließlich die Kriege in Europa und im Nahen Osten eine Welt entstehen lassen, in der es schrittweise zu immer weitreichenderen Schließungen kam. Doch es wäre ein Irrglaube anzunehmen, wir lebten heute in einer geschlossenen Welt. Vielmehr bestehen in der Welt von heute Offenheit und Abschottung nebeneinander. Vor diesem Hintergrund müssen althergebrachte Konzepte und Ansätze revidiert werden. Europa muss Wege finden, durch diese neue, ambivalente Welt zu navigieren.
Die italienische Politikwissenschaftlerin Nathalie Tocci ist Direktorin des Istituto Affari Internazionali in Rom und Honorarprofessorin der Universität Tübingen. Sie war außenpolitische Beraterin der beiden Hohen Vertreter der EU für Außenpolitik und in dieser Funktion federführend für die Globale Strategie der EU für Außen- und Sicherheitspolitik verantwortlich. Sie war Gastprofessorin an der Harvard Kennedy School und Fellow am Centre for European Policy Studies in Brüssel und am Robert Schumann Centre for Advanced Studies in Florenz. 2022-23 war sie Europe's Futures Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien.